Dr. Frauke Viebahn

Systemisches Coaching - Training - Lehre


„die Qual der Wahl“ oder „die freie Wahl“

In Deutschland stehen Jugendlichen, die sich ihrem Abschlussjahr in der Schule nähern, 324 anerkannte Ausbildungsberufe und 21.200! Studiengänge zur Verfügung. Das bedeutet, die jungen Menschen müssen sich entscheiden. Diese Entscheidung fällt vielen im zarten Alter von 16-19 Jahren verständlicherweise schwer. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (so etwas gibt es sicherlich nur in Deutschland😉) hat festgestellt, dass mindestens jeder fünfte Jugendliche nicht weiß, wie er sich beruflich orientieren soll. Viele schieben diese Entscheidung infolgedessen durch ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr oder Ähnliches noch hinaus. So reifen sie noch ein bisschen.

Wir könnten jedoch den Spieß einmal umdrehen: Die Welt steht den Jugendlichen prinzipiell offen! Offener denn je! Die Zeiten, in denen Kinder dasselbe machen mussten wie ihre Eltern, sind in der Regel vorbei. Es gibt immer noch erschreckende Ausnahmen, in denen Eltern ihre Kinder in Formen zwängen, die diese oft ein Leben lang beruflich einschränken. Vor allem in Familien mit einer langen Tradition in bestimmten Berufen (z. B. Ärzt:innen, Anwält:innen, Handwerker:innen) ist der Druck, diesen Pfad fortzusetzen, höher. Laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts aus dem Jahr 2023 gaben 15 % der befragten Jugendlichen an, dass sie den Beruf ihrer Eltern aus familiären Gründen in Betracht ziehen (müssen).

Wir haben also in der Regel eine große Gruppe von Jugendlichen, die sich eigentlich frei entscheiden kann und eine große Palette an Möglichkeiten zur Verfügung hat. Wie können wir das noch stärker nutzen?

In Deutschland steht vor allem die Frage der sozialen Durchlässigkeit im Fokus. 72 % von Kindern und Jugendlichen aus Akademiker:innenfamilien erreichen das Abitur, verglichen mit „nur“ 28% der Kinder, deren Eltern keine Akademiker:innen sind. Es gibt verschiedene Hemmnisse, die diesen Zugang verhindern. Wenn wir die Ursachen allein im finanziellen System suchen, machen wir es uns zu einfach. Immer wieder beobachte ich bei meinen Coachees, dass sie sich aufgrund mangelnder familiärer Unterstützung nicht trauen, den Schritt in ein Studium zu wagen. Soziale Ausgrenzung, mangelnde Vorbilder und Informationsdefizite sorgen dafür, dass diese Hemmschwelle für sie zu hoch ist. Der höchste Bafög- Satz in Deutschland liegt mittlerweile bei 1.018,00 Euro pro Monat. Damit lässt sich arbeiten! Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!

Ein junger Mann meinte letztlich in der Coaching-Sitzung, er habe das Gefühl, dass die Berufsberater:innen der Agentur für Arbeit nach entsprechenden Testungen, genau die Ausbildungsberufe ausgesucht hätten, die momentan gesucht werden. Er habe sich „veräppelt“ gefühlt, da seine Bedürfnisse und Wünsche aus seiner Sicht weitestgehend unberücksichtigt blieben.

Wichtig wäre, dass motivierte und zielorientierte Jugendliche, deren soziale Umstände einen Zugang zu einem Studium erschweren, bereits in der Schulzeit tatkräftig und vor allem individualisiert bei ihren Projekten und Zielen unterstützt und begleitet werden! Wer eine Vision hat, der ist auch in der Schule motivierter!

Dies ist häufig leider nicht der Fall. Soziale Barrieren können auch die Berufsinformationszentren nicht auffangen, die sich meist an recht starren, verallgemeinernden Eignungstests und recht generalistischen Beratungsangeboten orientieren. Die Lösung wäre eine individualisierte Begleitung, die eine längerfristige Unterstützung gewährleistet. Denn eines sollten wir uns bewusst machen: Entwicklungspsychologisch gab es eine deutliche Verschiebung des Erwachsenwerdens in die Mitzwanziger, das heißt auch die Anfang Zwanzigjährigen sind noch auf unsere Unterstützung angewiesen. Dementsprechend sollten wir, diesen jungen Menschen genau zuzuhören, ihre Stärken eruieren und sie schließlich in ihren Vorhaben unterstützen. Manchmal braucht es einen kleinen Stups in die richtige Richtung oder einen Anruf an der richtigen Stelle, um Unklarheiten zu beseitigen. Das dies vor allem für Jugendliche aus Familien, die sich noch nie mit einer universitären Ausbildung beschäftigt haben, einen großen Schritt bedeutet, ist vollkommen nachvollziehbar. Deshalb sollten genau an dieser Stelle, die Hemmschwellen abgebaut werden. Es entgehen uns viele Potenziale! Diese gilt es aufzufangen!

Weitere Insights

  1. „Alone, but not lost!“

    …Jugendliche, die alleine zurechtkommen (müssen) Es gibt sie immer noch, wenn auch deutlich seltener. Jugendliche, die aus diversen Gründen keinen familiären bzw.

  2. „Chill Your Base!“

    Beziehung und Haltung im Coaching mit Jugendlichen Haltung und Beziehung als Basis des Coachingerfolgs- eine Erkenntnis, die eigentlich nicht überrascht, dennoch erst in den letzten Jahren in den Fokus des Interesses rückte.

Hindernisse und Schwierigkeiten sind Stufen, auf denen wir in die Höhe steigen. (Friedrich Nietzsche)